Die Stände im Mittelalter 

Johann Zillgens Abhandlung über die mittelalterliche Gesellschaft

die mittelalterliche Gesellschaft

  1. Untertanen und Grundherren

Bei der Verpflichtung der Untertanen gegen die Grundherren galt das Recht der Freizügigkeit als unterscheidendes Merkmal des freien Mannes von dem Unfreien. Der Freie war Herr seiner Person. Die dinglichen Bande konnte er nach Belieben abstreifen. Grundeigentum zu erwerben war der an die Scholle gebundene Leibeigene weniger beschränkt als der Freizügige. Während dieser [der Leibeigene] durch die Übernahme unfreien Bodens in ein Verhältnis trat, welches seiner persönlichen Freiheit Abbruch tat, indem er Leibeigener seines Lehensherren wurde und dadurch seine Freizügigkeit einbüßte. Der Leibeigene konnte in Besitz von Gütern jeder Art gelangen, ohne doch seine Freiheit zu erlangen. Das Erbe war „vorfällig[1]“, d.h. direkt auf den natürlichen Erben übergehend, oder „hinterfällig“, d.h. nicht ohne Genehmigung des Grundherren auf die Erben übergehend. Grundsatz eines solchen Besitzes war die Belohnung und die Erfüllung der nach Vertrag oder Brauch eingegangenen Bedingungen. Versäumung hatte Rückfall des Gutes zur Folge, und zwar zugunsten des Grundherrn. Diese Güter sind insgesamt „Lehensgüter“ und unterscheiden sich in „eigentümliche Lehngüter“ und Lehen wie „Zinsgut[2] und Vogtei[3]“, zu welch letzterem auch das „Schaffgut[4]“ und das „Freischaffgut“ gehören. Durchgehendes erscheinen die Lehnsleute als mehrpflichtige Burgmannen, deren Freiheit aus dem geführten Bürgerartikel und der Waffenfähigkeit geschlossen wird. Außer den Pflichten der Schloßhut und Kriegsdienstlichen Lasten haften auch Fronden auf den Burgleuten.

Für das Persönliche waren die Lehensleute, „gerichtsschwänglich“ vor dem „Hochgerichte[5]“ oder dem „Burggerichte“. Alles die Lehngüter betreffende gehörte vor den „Lehnhof[6]“.

Die „Vogtei“ ist der Boden der Unfreiheit. Dem Grundherren standen über die seiner Gerichtsbarkeit unterworfenen Personen und Sachen ausgedehnte Rechte zu. Er war dem Landesherren schuldig, die Vogteien nach Brauch zu bemannen. Die Untertanen der Vogtei sind nicht freizügig, noch dürfen sie nach außen heiraten; sie müssen sich um einen Preis loskaufen. Wer ohne Herrenbewilligung außerhalb der Herrschaft heiratete, blieb mit den aus dieser Ehe erzeugten Kindern des Herren Eigentum. Ein von der Leibeigenschaft losgekauftes Familienmitglied verlor alle Erbansprüche auf die Immobilien der Vogtei. Die Witwe musste bei zweiter Ehe die Vogtei verlassen. Neben den aus der Ackergewinnung entspringenden Abgaben waren auch Frondienste zu leisten. Der Herr war seiner Zinsen und Dienste unverlustig.


 2. Die Gemeinde und die in ihr Wohnende

Von der Leibeigenschaft zur Freiheit lassen sich vier Arten von Gemeinden unterscheiden: 1. Die Gemeinde der Leibeigenschaft, 2. Die freie Gemeinde hinterfälliger Güter, 3. Die freie Gemeinde vorläufiger Güter, 4. Die städtische Gemeinde.

  1. Auf der niedrigsten Stufe der Freiheit treffen wir die Gemeinde der Leibeigenschaft. Die Vogteien sind Schaffgütergemeinden. Sie stehen unter dem Schutze der Gerichtsbarkeit ihrer Grund- und Gerichtsherren. Das Gemeindegebiet zerfällt in a) Stockgüter, b) das herrschaftliche Kammergut (Höfe, Mühlen, Achten, Brühle[7], Wälder) und c) das Gemeindeeigentum. – Jeder Gemeindeverband hat sein eigenes Grundgericht und eingesessene Schöffen. Verwaltung und Justiz sind ungeschieden; sie werden durch Herrendiener, Gerichtsschöffen, Centener[8] und Hilfsbeamte geübt. (Centener vom lateinischen centenarius, das ist ein Vorstehereiner Hundertschaft oder eines Ortes, also der Schultheiß[9]). Aus jener Zeit berichten die Weistümer (das sind Urkunden über die Schöffensitzungen) über die Zustände  in den Orten zwischen Herrschaften und ihren Untertanen, über die Pflicht des Grundherren, seine Untertanen zu beschützen, über die Rechte, die er gegenüber den Untertanen hat und über die Pflichten, die diese gegen ihren Grundherren haben.
  2. Die freien Dorfgemeinden erscheinen als genossenschaftliche Vereine unter dem Schutze des Grund- und Gerichtsherren. Die Aufnahme als Gemeiner ist hier durch Aufenthalt von Jahr und Tag durch eine Gebühr an Herrn und Gericht bedingt.
  3. Die städtische Gemeinde hat ihre eigene doch nicht für alle Orte gleichförmig normierte Verwaltung mit ihrem aus Wahlen hervorgegangenen Gerichte und Gemeinderat nebst Centener, Bau- und Zunftmeistern. Auch mit den Symbolen der Freiheit: Rathaus, Gemeindekasse, Siegel, Banner, Glocke und Hochgericht waren sie verschieden ausgestattet. Die Einwohner führten die Bezeichnung „Bürger“. Die Gewerbe hatten Satzungen und Vorrechte und nahmen durch ihre Amtsmeister Teil an der Verwaltung. Durch die Siegelfähigkeit ist die moralische Person der Gemeinde als dritter Stand der Geistlichkeit und dem Adel nähergerückt. Der Bürger steht in vollem Genusse des Eigentums. In der Regel gilt Befreiung vom Herrendienste mit Ausnahme der Heeresfolge. Die Orte Bitburg und Neuerburg erhielten städtische Rechte durch Frei- oder Freiheitsbriefe, und zwar Bitburg im Jahre 1262 und Neuerburg im Jahre 1339.

Aus dem Freiheitsbriefe von Bitburg:

  1. Hat ein Bürger von Bitburg einen Mitbürger verwundet, so tun vorerst Richter und Schöffen dem Verwundeten ein Genüge, hat aber der angreifende Teil eine Beschwerde zu Last des Verwundeten, so ist letzterer gehalten, sich vor Gericht zu rechtfertigen.
  2. Wir behalten uns und unseren Nachfolgern in der Grafschaft Luxemburg die Bannöfen in der nämlichen Weise wie zu Thionville, so daß kein Bürger einen Backofen haben darf. Wir können niemand den Gebrauch gestatten, noch zu Lehen geben, aber wir genießen alle Vorteile dieses Rechtes. (Solche Rechte hatte der Grundherr am Besitze der Gemeinde außer am Backhaus auch am Brauhaus und der Mühle).
  3. Wer mit Wein handelt, zahlt uns jährlich zu Ostern und Pfingsten 100 Stuber.
  4. Die Bürger von Bitburg stellen auf eigene Kosten zwei Wachen zu Hut der Stadt, und wir halten uns vor, nach Gutdünken eine dritte zu stellen. In Kriegszeiten sind die Bürger von Bitburg gehalten, die erforderliche Mannschaft zu stellen.
  5. Die nämlichen Bürger unterhalten auf eigene Kosten zwei Boten unsere Briefe zu tragen. Auch unsere Amtsleute dürfen dieselben zu unseren Diensten gebrauchen.
  6. Wenn wir eine Kriegsfahrt ansagen, werden nicht alle mitziehen, sondern es wird zur Hut der Stadt eine gewisse Anzahl zurückbleiben. Wenn jedoch diejenigen, welche der Propst bezeichnet, nicht am bestimmten Orte erscheinen, zahlen sie die Buße.

Aus dem Freiheitsbriefe von Neuerburg:

  1. Ins Hochgericht gehört alles Leibsträfige, Hals, Bauch, Mord, Totschlag, Straßenraub, Dieberei, Verrat, Zauberei, Ketzerei, blutige Wunden und Scheltworte
  2. Ins Mittelgericht gehören; Schuld, Pfändung, Pfändveräußerung
  3. Im Grundgericht werden alle Grundsachen und alle hierauf bezüglichen Verpflichtungen abgeurteilt. Die nach einem Jahre nicht abgezahlten Zinsen werden Schuld und gehören dann vor das Mittelgericht.

[1] Primogenitur (mlat. primogenitura = die Erstgeburt). Um die Zersplitterung der großen Reichslehen und der Grafschaften zu verhindern, legte Kaiser Karl IV. in seiner Goldbulle von 1356 fest, dass in den Häusern der Kurfürsten die Erbfolge nach dem Erstgeborenenrecht zu regeln sei, d.h., dass das gesamte Hausgut und das Regiment dem Erstgeborenen zu verbleiben hatten. Diese Regelung hatten einige Häuser bereits vorweggenommen (z.B. Henneberg 1310, Hessen 1311, Katzenelnbogen 1331, Bayern 1341, Holland 1347, Braunschweig 1351); später setzte sie sich in den meisten Fürstendynastien durch. (Mittelalter-Lexikon https://www.mittelalter-lexikon.de/wiki/Primogenitur Stand 27.05.2025)

[2] Zinsbauern, auch Zinsleute,[1] Gabelleute[2] oder Zensualen (lat. homines censuales) waren Angehörige des Bauernstands, die gegenüber dem Grundherrn zur Leistung von bestimmten Geldabgaben (Zinsgeld, zu lateinisch census = Abgabe, Zins) verpflichtet waren.[3] siehe Wikipedia sowie https://woerterbuchnetz.de/?sigle=DWB&lemid=Z06918

[3] Vogtei (mhd. vogetie, voitie = Vormundschaft, Anwaltschaft, Rechtsbeistand; v. lat. advocatia). Das Amt (mhd. vogetunge), der Amtsbezirk, der Amtssitz eines ®Vogtes.
Von besonderer Bedeutung war die Vogtei im Bereich geistlichen Besitzes: der Vogt war ein Laie, der die weltlichen Interessen von geistlichen Herren (Bischöfen, Äbten) bzw. Institutionen (Kirche, Kloster) in Rechtsfragen zu Grundherrschaft und Kirchengut wahrnahm, sie vor Gericht vertrat und vor Gewalt schützten ("Schutzherrschaft"). Schon zu Zeiten Karls d. Gr. waren Kirchenvogteien feste Einrichtungen mit Amtscharakter; Kirchenvögte kamen selten durch freie Wahl durch die Bevogteten, üblicherweise durch Ernennung seitens des Kirchen- oder Klosterstifters (Patronatsherren) ins Amt. Vom 11. Jh. beanspruchten die Stifterfamilien die Vogtei in zunehmendem Maß als erbliches Recht. - An der Spitze der salisch-ottonischen Reichsvogteien standen Vertreter der mächtigsten Adelshäuser, die durch Wahl, durch Erbfolge oder durch Kauf in ihr Amt kamen. Vom 13. Jh. an gab es Vogteien für eine Vielzahl von Sachgebieten, die mit Verwaltungsaufgaben in Land und Stadt befasst waren.
An manchen Klöstern hatte der zuständige Vogt seinen Amtssitz in einem eigenen, außerhalb des Klausurbereichs liegenden Vogtshaus. Dieser entsprach baulich einer städtischen Vogtei und war herrschaftlich ausgestattet mit einem Festsaal und heizbaren Räumen. Beispiel: das Vogtshaus im Kloster Alpirsbach. (Mittelalter-Lexion https://www.mittelalter-lexikon.de/wiki/Vogtei Stand 27.09.2025)

[4] Auch Stockgut genannt. Das Stockgut (Stockland bei Thalexweiler, Bubach usw.) ist ein unteilbares Gut, das stets auf das älteste Kind vererbt wurde.  (Quelle https://www.hfrg.de/index.php?id=374 Stand 27.09.2025

[5] Hochgericht. (mhd. halsgerichte, hohgeriht; mlat. iudicium maius, iud. altum, iud. supremum; vom 12. Jh. an auch bluotban, iudicium sanguinis). Die hohe Gerichtsbarkeit hat sich aus dem ®Kompositionensystem der Volksrechte entwickelt, war bis ins 10. Jh. durch die Höhe der verhängten Bußzahlungen definiert und wurde meist von den Grafengerichten ausgeübt. Dazu gesellte sich die Blutgerichtsbarkeit bei ®handhafter Tat. Im 12. Jh. hat sich das Hochgericht vom ®Niedergericht getrennt und zunehmend den Charakter einer Blutgerichtsbarkeit angenommen. Zu seinem Aufgabenbereich gehörten nun vornehmlich Delikte, die mit Lebens- oder Körperstrafen zu ahnden waren (delicta capitalia, causae maiores, c. sanguinis), seltener solche, die durch Geldstrafe abgegolten werden konnten (causae minores). Zu den Kapitaldelikten zählten ®Mord, schwerer ®Diebstahl, ®Brandstiftung, ®Vergewaltigung, später auch unberechtigte Fehde, Friedensbruch, Münzfälschung (s. Münzvergehen), Ketzerei (s. Häresie), Zauberei (s. Hexenprozess), Sodomie und Abtreibung. Bei Fällen von ®Verwundung war die jeweilige Gerichtszuständigkeit i.a. durch die Schwere der Verletzung gegeben und nicht eindeutig festgelegt.
Kompetenzstreitigkeiten entstanden vor allem um bußwürdige Sachen wie ®Totschlag und schwere Verwundung, da sowohl Hoch- wie Niedergericht am Eingang der Bußgelder interessiert waren. Vom 12./13. Jh. an gelang es den Niedergerichten in zunehmendem Maße, die bußwürdigen Sachen an sich zu ziehen, wogegen das Hochgericht auf die Erledigung todeswürdiger Sachen festgelegt und zum reinen Blutgericht wurde.
Im SMA. erreichten auch die Ratsgremien einiger privilegierter Reichsstädte die Blutgerichtsbarkeit (z.B. Nürnberg, 1320). (Mittelalter-Lexikon, https://www.mittelalter-lexikon.de/wiki/Hochgericht (Stand 27.09.2025)

[6] Hof an der Stelle eines zumeist während des Mittelalters von adeligen Grundherren an Ritter vergebenen Lehens

[7] feuchte, fette Wiesen ab, die in unmittelbarer Nähe zum Dorf oder Stadt lagen.

[8] Dies ist ein Begriff für den Anführer einer Hundertschaft, dessen Fortbestehen im Mittelalter in der heutigen Forschung jedoch umstritten ist.

[9] Schultheiß (mhd. schultheize, ahd. sculdheizo; von Schuld und heischen [einfordern], eigentlich "der Verpflichtung Befehlende". Kontrahiert auch Schulze, Schultze, Schulte, Scholz; mlat. scultetus, causidicus). Aus einem landesherrlichen Amtsträger, der die Erlegung der Abgaben sowie die Einhaltung von Vorschriften überwachte und gerichtliche Anordnungen vollstreckte, wurde später der ländliche Dorfschulze oder der Stadtschultheiß: der Gemeindevorsteher mit niederer Gerichtsgewalt; er hatte die Belange der Dorfgemeinschaft gegenüber dem Grundherren zu vertreten und gleichzeitig dessen Interessen wahrzunehmen. Dorfschultheiße wurden vom Grundherren eingesetzt oder in freier Wahl durch die Dorfgemeinde gewählt. In Orten, in welchen mehrere Grundherrschaften begütert waren, gab es auch entsprechend viele Schultheißen. In manchen Reichsstädten wurde das Schultheißenamt erblich. Im SMA. fielen oft die Ämter des ®Vogts oder des ®Burggrafen mit dem des Schultheißen in eins, wodurch dieser zum Stadtrichter schlechthin wurde. Im Gebiet der ostdt. Siedlung bildete sich das Amt des Erbschulzen, das erbliche, an die Hofstelle gebundenen Dorfrichter- und Dorfvorsteheramt, das häufig dem ®Lokator vorbehalten war (s. Bauermeister). (Mittelalter-Lexikon https://www.mittelalter-lexikon.de/wiki/Schulthei%C3%9F Stand 27.09.2025)