Auch für den Ort Sülm hat der Arbeitskreis einen Bericht recherchiert, was den jüdischen Bürgern dort widerfahren ist. Der berichtende war Helmut Scholz.
Helmut Scholz, Jahrgang 1925, ist der Großneffe von Max, Klara und Rosetta Ruben aus Sülm. Diese wurden 1942 nach Theresienstadt und ins KZ Sobibor deportiert und ermordet. Helmut Scholz war zwischen etwa 1938 und 1942 mehrmals zu Besuch bei seinen Verwandten in Sülm und hat seine Erinnerungen niedergeschrieben:
Teil 1
Meine Erinnerungen an die Familie Ruben, Sülm bei Bitburg
Mein Name ist Helmut Scholz, Köln, geb. 1925 in Dortmund. Meine Mutter war eine geborene Rosenbaum, Großvater Joseph R. war Sattlermeister mit eigenem Geschäft in Lünen an der Lippe und meine Großmutter war Juliane, geborene Ruben (älteste mehrerer Geschwister) aus Sülm. Sülm ist ein aus dem 13. Jahrhundert entstandenes Dorf mit Pfarrkirche für die umliegenden kleineren Dörfer. Es liegt ca. 4 km oberhalb Speicher-Bahnhof (Kylltal) und ca. 1,5 km von der Straße Trier-Bitburg.
Ich habe in Deutschland überlebt, weil mein Vater als Schlesier evangelisch war und als junger Polizeibeamter bei Münster in Westfalen seine Ausbildung hatte und dabei meine Mutter als Jüdin kennengelernt hatte. Meine Mutter wurde evangelisch, ich ebenso. Mein Vater wurde immer wieder gedrängt, sich scheiden zu lassen. Er hat dies verweigert, wurde nicht mehr befördert in der Nazizeit und ca. 1943 zwangspensioniert. Meine Mutter und ich kamen in Zwangsarbeitslager und wurden zum Kriegsende 1945 April befreit.
Nun wieder zur Familie Ruben aus Sülm: Das Ehepaar Ruben (meine Urgroßeltern) kamen aus Bruttig und Leiwen an der Mosel. Sie erwarben ein Haus mit Stall nahe der Kirche. Als Beruf wurde angegeben „Handelsmann“. Es handelte sich dabei um Viehhandel (Rinder), die im Dorf und Umgebung aufgekauft und in Trier auf dem Viehmarkt verkauft wurden. Diese Tätigkeit führte mein Großonkel Max (jüngerer Bruder meiner Großmutter Juliane) fort, bis die Nazis dies ca. 1938 verboten. Die weiteren Geschwister von Juliane und Max waren: Rosetta, Klara, James, Rudolf und eine weitere Schwester die 1929 verstarb.
Teil 2
Der Lebensweg der Geschwister war etwa: Juliane lernte in einer jüd. Famlie an der Mosel Haushalt, insbesondere auch koscheres Kochen usw. kennen. Mein Großvater Joseph Rosenbaum lernte sie bei seiner Gesellenwanderung kennen! Rosetta führte später den Haushalt für Max und Klara. Klara betrieb einen kleinen Dorfladen im Hause in Sülm. Die Geschwister Rosetta, Klara und Max blieben unverheiratet. Großonkel James wanderte nach Kanada schon lange vor 1930 aus. Er hat als Juwelier ein gut gehendes Geschäft aufgebaut und unterstützte die Familie in Sülm. Großonkel Rudolf als Jüngster konnte ein Bekleidungsgeschäft in Witten/Ruhr und später in Essen aufbauen. Seine Kinder Rudolf und Ellen wanderten um 1937/38 mit Hilfe der Jugendallijah nach Palästina aus (Kinder- und Jugend-Alijah: Organisation, die in der Zeit des Nationalsozialismus jüdische Kinder und Jugendliche nach Palästina und in andere Länder rettete; Anmerkung der Redaktion). Sie waren am Aufbau des Kibbuz Kfar Hamakabi bei Haifa beteiligt.
Teil 3
Die Geschwister Ruben waren zwischen 1868 (Juliane) und ca. 1880 geboren. Normal hat von allen Geschwistern Ruben nur James in Kanada mit seiner Frau (kinderlos) gelebt und ist dort auch gestorben. Meine Großmutter Juliane und Opa Joseph Rosenbaum hatten fünf Kinder: Meine Mutter Erna als Älteste, dann Arthur (Musiker), Rudolf (Sattler), Paula (Haushälterin) und Willy (Metzger). Als nach 1935 die Existenz immer mehr gefährdet wurde, verkaufte mein Großvater Rosenbaum sein Haus einschließlich Werkstatt und zog in eine ärmliche Wohnung in Lünen. Von dem Geld wurde die Auswanderung von Rudolf, Paula und Willy nach Argentinien bestritten (einschließlich Möbel, Werkzeug usw.). Dort musste zuerst schwere Aufbauarbeit in einer schlechten Agrarzone geleistet werden. Dank der in Deutschland erworbenen Kenntnisse bauten Willy als Metzger mit Rudolf eine Wurstfabrik in Rosario am Paraná (Argentinien) auf. Arthur als Musiker wollte bleiben und geriet dabei 1938 nach der Pogromnacht 9.11. in die Fänge der SA. Er landete 6 Wochen im KZ Dachau. Mit der letzten legalen Möglichkeit wanderte er mit seiner Frau über die Verschiffung in Genua nach Shanghai aus. Nach 1945 (7 Jahre dort im Sonderbezirk) ging seine Weiterreise nach New York (USA). Alle 4 „Rosenbäumer“ starben im Auswanderungsland.
Nun wieder zurück zu der älteren Generation nach Sülm: Die 3 unverheirateten Geschwister lebten einträchtig mit der Nachbarschaft und der Dorfgemeinschaft zusammen. Von den Streuobstwiesen kamen hauptsächlich Rambouräpfel (guter Lagerapfel) der in Weidekörben vernäht mit Sackleinen sogar nach Köln und zu den Verwandten nach Essen und Lünen verschickt wurde. Alle 14 Tage wurde rundes Eifelweißbrot mit fester brauner Kruste im eigenen Backofen (im Vorratskeller) gebacken (Steinofen). Dort lagerten u.a. Möhren und Kartoffeln vom eigenen Garten und Feld. Ein anderer Keller war für eingesalzenes Fleisch, dazu gab es eine Wurstküche als Anbau hinter dem Haus und über dem alten offenen Herd den Rauchabzug für Wursträucherei. Neben den Hühnern stand auch eine Kuh im Stall. Gelegentlich wurde ein Rind geschlachtet; neben Eigenbedarf wurde Frischfleisch, Pökelfleisch und Wurst verkauft. Reichte das Brot nicht aus, wurde 1 Brot vom Nachbarn ausgeliehen und nach dem nächsten Backtag zurückgegeben. Da wenige Felder bestanden, wurden diese gegen Lohn oder Naturalien von Nachbarbauern bestellt. Es bestanden Kontakte zur jüdischen kleinen Gemeinde nach Bitburg und geschäftlich im Umkreis…, z.B. kam das Mehl von der Wassermühle Loskyll nahe Speicher-Bahnhof.
letzter Teil
Diese Situation verschlechterte sich nach 1935. Die Rassengesetze brachten die ersten Belastungen: Wertstücke, Devisen mußten abgegeben werden, u.a. 2.500 kanadische Dollar von Onkel James (Devisenbeschaffung der Nazis). Das Geschäft von Klara wurde immer schwächer; der Viehhandel und die Schlachtung ging zurück. Gute Nachbarn trauten sich bald nur noch in der Dunkelheit ins Haus.
Am 9.11.1938 drangen SA-Leute aus dem etwas entfernten Dorf Idenheim ins Haus und zerschlugen Möbel, teilweise Fenster und schlugen mit der Spitzhacke auf die Kellerdecke über den Pökelfleischvorräten. Die brach etwas ein und hielt, da sie stabil gebaut war. Die notdürftige Auffüllung des Fußbodens verdeckte den Schaden. Die Geschwister waren geschockt und verängstigt. Bald wurden noch Juden aus Bitburg ins Haus eingewiesen. Die geschäftliche Tätigkeit ging bald ganz zurück. Es wurde nur noch von eigenem Garten u. Feld gelebt. Bei meinem letzten Besuch 1942 habe ich mit Onkel Max jüdische Gebetbücher aus Bitburg im Backofen unten im Keller verbrannt. Bald darauf kam der Abtransport über Trier nach Theresienstadt und dann in ein Todeslager nach Ostpolen…Meine Großeltern aus Lünen wurden auch nach Theresienstadt verschleppt und starben dort 1942/43. Onkel Rudolf mit seiner Frau war jünger und kam in ein Todeslager…
